„Non-Compliance“ als Ausschluss für ambulante psychiatrische Pflege? – Zusammenfassung der Präsentation von Ursina Zehnder und Sonja Santi am sechsten internationalen Psychiatriekongress zu seelischer Gesundheit und Recovery am 30.5.2024 in Bern.
Die ambulante psychiatrische Pflege in der Spitex ist ein wichtiger Bestandteil der ambulanten Pflegeversorgung. Die Anzahl der zu versorgenden Kundinnen und Kunden steigt von Jahr zu Jahr. Die Finanzierung der ambulanten psychiatrischen Pflege (APP) ist gesetzlich geregelt in der Krankenpflege-Leistungsverordnung. Die Leistungen der APP müssen prospektiv quantifiziert werden. Das Pflegecontrolling jeder Krankenkasse prüft diese Leistungen anhand der Pflegedokumentation und hat das Recht, Leistungen im Rahmen der WZW-Kriterien (Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit) zurückzuweisen.
Grundsätzlich ist die Zusammenarbeit mit den Krankenversicherungen geprägt von Vertrauen. Jedoch kommt es im Alltag vereinzelt zu Situationen, in denen Leistungen abgelehnt werden. Die Ablehnung betrifft häufig Menschen, die längerfristig im Alltag durch die Spitex unterstützt werden. Im Fall eines 62-jährigen Kunden mit schwerer psychischer Erkrankung wurden unter der Begründung «Non-Compliance» sämtliche psychiatrische Leistungen zurückgewiesen. Die Aussage, dass ein Mensch, der fehlende Einsicht in seine Krankheit hat, nicht aktiv an der Behandlung mitwirken kann, wurde wiederholt als Grund für die Ablehnung von Leistungen angeführt. Die Kontrollen und die fehlenden Fachkenntnisse des Pflegecontrollings führen dazu, dass die adäquate Umsetzung von APP erschwert ist im Alltag und Kundinnen und Kunden eine Benachteiligung erfahren.
Von der Compliance zur Adhärenz
In der aktuellen Literatur wird Compliance (Abderhalden et al., 2023) als ein veraltetes Konzept beschrieben, das im Wesentlichen mit dem Begriff der Therapietreue gleichzusetzen ist. Es meint, dass Patientinnen und Patienten freiwillig das tun sollten, was Ärztinnen und Ärzte oder Pflegefachpersonen von ihnen verlangen. Dieses Verständnis von Compliance oder Therapietreue suggeriert somit, dass die Betroffenen einseitig dafür verantwortlich sind, ob eine Therapie zum Erfolg führt oder versagt. Das veraltete Compliance-Modell enthält somit eine paternalistische Sichtweise der Beziehung zwischen Behandlungsteam und Nutzenden, es sieht die Autorität und alleinige Entscheidungshoheit auf Seite der Behandelnden. Da Compliance-Konzepte die Einbindung der Betroffenen in die Behandlungsplanung zu wenig im Blick haben, wird geraten, anstatt dessen das Konzept der Adhärenz zu verinnerlichen und zu verwenden.
Adhärenz
Adhärenz bedeutet die Einhaltung der gemeinsam mit den Kundinnen und Kunden und dem Behandlungsteam gesetzten Therapieziele. Der Prozess ist grundsätzlich ergebnisoffen. Wichtiger als die Erreichung eines aus professioneller Sicht anzustrebenden Zieles ist neben einer vertrauensvollen Beziehung die Qualität der getroffenen Entscheidung durch die Kundin oder den Kunden. Ob es einem Menschen gelingt, mit dem Rauchen aufzuhören, eine Diät einzuhalten oder langfristig Medikamente einzunehmen, hängt von vielfältigen Faktoren ab. So kommt es unter anderem darauf an, welche sozioökonomische Situation vorherrscht, wie barrierefrei der Zugang zum Gesundheitssystem ist, wie die psychiatrischen Symptome das Verhalten beeinflussen oder wie schwierig die Therapie oder das Verhaltensprogramm (z. B. auf das Rauchen zu verzichten) umzusetzen sind. Um dieser Komplexität gerecht zu werden, braucht es komplexe und vielfältige Herangehensweisen.
Schlussfolgerungen
In der ambulanten psychiatrischen Pflege muss ein einheitliches Verständnis und ein Diskurs unter Fachpersonen vorangetrieben werden, damit eine gemeinsame fachliche Haltung vorherrschend ist. Im Fokus von APP steht neben der Förderung und der Erreichung von Zielen auch der Erhalt und die Stabilität im Vordergrund. Gerade bei Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen ist eine Stabilisierung und der Erhalt der Autonomie kosteneffizienter und entspricht einer menschenrechtsbasierten Versorgung. Diese Haltung sollte regelmässig auch mit den Krankenversicherungen diskutiert werden.
Das Bewusstsein für eine implizite Rationierung im Rahmen der Bedarfsabklärung durch Pflegefachpersonen, dem Vorenthalten von Leistungen aus Sorge die Krankenkasse beanstandet den Pflegeprozess, sollte explizit gemacht werden (Zúñiga & Frei, 2021). Es braucht nationale Handlungsempfehlungen für Spitexbetriebe zur Prüfung der WZW-Kriterien durch die Krankenversicherungen auf der Basis eines aktuellen Fachdiskurses. Die Prüfung muss durch fachlich qualifizierte Personen erfolgen. Eine integrierte Versorgung mit APP als wesentlicher Teil zur Umsetzung des Prinzips ambulant vor stationär bedarf adäquater Tarifstrukturen und Ressourcen. Dies beinhaltet auch eine Aufhebung der Befähigung zur psychiatrischen Bedarfsabklärung.
Literatur
Abderhalden C., Sauter, D. & Needham I. (2023). Der Pflegeprozess. In Sauter D., Abderhalden C., Needham I., Wolff S., Lehrbuch psychiatrische Pflege (S.383-432). Hogrefe.
Zúñiga, Franziska, und Irena Anna Frei. „Zwischen Anspruch Und Wirklichkeit – Perspektive von Fallverantwortlichen Pflegefachpersonen Zur Rationierung in Der Spitalexternen Pflege“. Pflege 34, Nr. 1 (Februar 2021): 23–30. https://doi.org/10.1024/1012-5302/a000776.