Ursina Zehnder
Zurück zu Aktuelles

Ohne Spitex keine eigene Wohnung

Spitex Zürich pflegt und betreut Menschen mit psychischen Erkrankungen. Eine Reportage zum aktuellen Tag der psychischen Gesundheit. 

Die grosse Kiste ist bis zum Rand voll mit gefüllten Packungen verschiedener Pflaster, fein säuberlich sortiert. In einer anderen, gleich grossen Kiste lagert Pasta, eine weitere ist voller Taschenlampen. «Einiges sind Nachwehen von den Ängsten, die ich zu Beginn von Corona hatte», sagt Urs Schmid*. Diese und rund ein Dutzend weiterer Kisten stehen bei ihm im Zimmer. Es stapeln sich Zeitungen, Berge von Schachteln aus dem Online-Shopping, häufig noch in der Originalverpackung. «Es ist das oberste Ziel der Spitex-Einsätze, dass ich in meiner Wohnung hier in Affoltern bleiben kann. Ohne Spitex ginge es nicht lange, ich würde mich zustellen», sagt Urs Schmid. «Die Wohnung mit ihren Objekten ist als sicherer Rückzugsort für meine psychische Stabilisierung wichtig, wenn nicht lebenswichtig.» 

Zeitungen

 

Viele – zu viele – Gegenstände würden zunehmend die schmalen Gänge in der Wohnung verstopfen und werden auf dem Boden zu gefährlichen Rutsch- und Stolperfallen. Und so ist das gemeinsame Aufräumen ein wichtiger Teil der wöchentlichen Spitex-Einsätze. «Fürs Aufräumen von Toilettenartikeln hatte ich eine Viertelstunde veranschlagt», sagt Urs Schmid. Doch selbst mit Unterstützung hat es letzte Woche eineinhalb Stunden gedauert. Jetzt gibt es auch eine grosse Kiste, die mit «Toilettenartikeln» angeschrieben ist und bei Bedarf rasch gefunden wird. Solche Aufräumaktionen strengen Urs Schmid sehr an. 

Kein regelmässiger Austausch mit Mitmenschen 

Neben dem Sammelzwang prägen Angstgefühle seinen Alltag. «Schon als Kind schaute ich zu, wie andere Kinder draussen miteinander spielten. Gerne hätte ich mitgemacht, doch die Angst, ausgestossen und abgelehnt zu werden, war grösser.» Auch heute bereitet es dem 55-jährigen Mühe, die Wohnung zu verlassen. Einen regelmässigen sozialen Austausch mit Mitmenschen gibt kaum. «Ich erscheine äusserlich als starker Mann.» Aber er sei auf Hilfe angewiesen. «Haben Menschen ein sichtbares, körperliches Gebrechen, wird ihnen im Alltag geholfen», erklärt Ursina Zehnder, Pflegeexpertin APN und im Bereiche Mental Care tätig. «Psychisch erkrankte Menschen erfahren solche Unterstützung zu selten. Sie werden häufig als ‘komisch’ wahrgenommen und stossen immer noch häufig auf wenig Verständnis in der Gesellschaft.» 

Psychische Beeinträchtigung verhindert soziale Kontakte 

Die Angstgefühle lassen Urs Schmid lange zögern, beispielsweise in einer Selbsthilfegruppe mitzumachen. «Ich könnte zu spät kommen und fürchte deshalb auch dort abgelehnt zu werden», erklärt er. Ohne grosse Tasche, gefüllt mit Gegenständen, die ihn vor erdenklichen Eventualitäten schützen, kann Urs Schmid nicht aus seiner Wohnung. Er könnte seine Kleider feucht schwitzen und danach frieren, es könnte regnen. Er könnte Durst bekommen. Oder Hunger. Und das Packen seiner Tasche braucht Zeit – so viel Zeit, dass er zu vielen Terminen zu spät kommt. «Es hilft mir nicht, wenn ich früher mit dem Packen beginne. Die zweifelnden und verunsichernden Gedanken kommen teilweise erst kurz bevor ich gehen muss. Ich möchte unmittelbar vor dem Verlassen der Wohnung in verschiedenen Wetter-Apps prüfen, wie sich das Wetter entwickelt. So ausgerüstet fühle ich mich sicher genug, um das Haus zu verlassen.» Zudem sind Treffen von Selbsthilfegruppen häufig am Nachmittag. «Das schaffe ich nicht.» Urs Schmids Tag-Nach-Rhythmus ist gestört. Er ist häufig nachts wach, kann erst am frühen Morgen Schlaf finden. «Mitmenschen können diese Andersartigkeit nur schwer nachvollziehen. Ich erwarte nicht, dass sie es verstehen. Einfach akzeptieren, das würde mir sehr helfen und ich würde mich weniger angreifbar fühlen», so Urs Schmid. 

Ambulante Pflege wird wichtiger 

Was rät Urs Schmid Menschen, die an gleichen Symptomen leiden wie er? «Ich weiss es nicht», sagt er. Sollen solche Menschen professionelle Hilfe holen? «Wenn sich ihre Lage sonst zunehmend verschlechtert, wäre das wichtig. Und es motiviert und stärkt das Selbstvertrauen, es auch allein zu wagen. Es ist für mich harte Arbeit. Das gemeinsame Tempo mit den Spitex-Mitarbeitenden ist für mich sehr intensiv. Aber ich bin sehr froh und bitte sogar darum. Jedenfalls braucht es Vertrauen eine fremde Hilfsperson an all die privaten Dinge heranzulassen.» Menschen mit schweren psychischen Beeinträchtigungen leiden unter Ausschliessungs- und Ausgrenzungstendenzen. «Die Wissenschaft bezeichnet das als soziale Exklusion. Entsprechend ist soziale Inklusion ein Hauptziel der modernen psychiatrischen Versorgung. Ambulante psychiatrische Pflege, die im sozialen Umfeld der betroffenen Personen stattfindet, wird wichtiger als stationäre Aufenthalte in einer psychiatrischen Klinik», so Ursina Zehnder. 

Ursina Zehnder

 

«Dank meiner ausgeprägt guten Menschenkenntnisse erkenne ich rasch, ob es eine Person mit mir gut meint oder nicht.» Ohne gegenseitiges Vertrauen sei keine Zusammenarbeit mit Kundinnen und Kunden möglich, ergänzt Ursina Zehnder. «Ich bin bei Spitex Zürich in guten Händen», sagt Urs Schmid und lacht. 

Anstieg der ambulanten psychiatrischen Pflege 

In den letzten Jahren hat die Inanspruchnahme von ambulant psychiatrischen Dienstleistungen deutlich zugenommen. Gründe sind unter anderen die Veränderung der Wahrnehmung, höhere Akzeptanz, gesellschaftlicher Wandel oder die Ausweitung professioneller Konzepte. Die aktuellen Zahlen zur psychischen Gesundheit zeichnen folgendes Bild: Laut dem Schweizerischen Gesundheitsobservatorium OBSAN leidet rund ein Drittel der Schweizer Bevölkerung an psychischen Problemen. Hilfe haben lediglich rund ein Drittel der Personen mit Behandlungsbedarf erhalten. Damit besteht ein hoher ungedeckter Bedarf. 

Spitex Zürich reagiert auf diese Entwicklung und hat mit Mental Care ein eigenes Hauptgeschäftsfeld geschaffen. Insgesamt leisten über fünfzig engagierte Mitarbeitende einen wertvollen Beitrag für die soziale Inklusion von Menschen mit psychischen Erschütterungen. Ziel ist die Förderung der Selbstbestimmung von Menschen mit psychischen Problemen in der Stadt Zürich. 

Die Dienstleistungen umfassen: 

  • Spezifische psychiatrie-pflegerische Bedarfsabklärung 
  • Förderung des Selbstmanagements im Umgang mit Erkrankung und Therapie 
  • Unterstützung im Aufbau, in der Reflektion und im Aufrechterhalten von sozialen Beziehungen und der gesellschaftlichen Teilhabe 
  • Unterstützung bei der Problem- und Krisenbewältigung sowie Bewältigungsstrategien 
  • Aufbau und Erhaltung einer als sinnhaft empfundenen Tagesstruktur 
  • Befähigung zur Haushaltführung und der Selbstpflege 

Psychische Erkrankungen sind vielfältig, und ebenso unterschiedlich sind die Menschen, die damit leben. Als Basis für die Zusammenarbeit dient eine vertrauensvolle Beziehung und viele Betroffene können ihren Alltag auch mit punktueller Unterstützung durch Spitex Zürich gut meistern. 

*Name geändert.